‚Ganz Ohr sein‘: Drei Vortragende begeistern in voll besetzte Stadtbücherei

Lemgo. Wenn es denn Eintritt gekostet hätte: am Freitagabend bei „Ganz Ohr sein“ wär die Stadtbücherei ausverkauft gewesen. So hieß es nur wieder einmal: alle Plätze besetzt. Kein Wunder bei den geladenen Gästen: Patrick Busse vom TV, Dr. Marlen Grote von der Stadt Lemgo und – in Begleitung von Assistenzhund Sammy – Martin Franke, Leiter der Selbsthilfegruppe für Sehbehinderte.
„Ganz Ohr seinist jetzt auch nach altem Recht volljährig geworden“ – in seiner launigen Begrüßung verwies der Büchereileiter auf die nunmehr 21 Jahre, in denen drei- bis viermal jährlich dieser besondere Leseabend in Lemgo stattfindet. Immer mit dem Wunsch, nicht nur wichtige Texte einem größeren Publikum vorzustellen, sondern auch, mehr über die geladenen Gäste, ihren Beruf und ihr Engagement für Lemgo zu erfahren. Und dank der umsichtigen Gesprächsführung durch Elisabeth Webel ging dieser Wunsch auch am Freitagabend in Erfüllung.
Dr. Marlen Grote ist Content-Managerin der Stadt Lemgo, also die „digitale Öffentlichkeits-Arbeiterin“, wie man es auch nennen könnte. Eine Stelle, die es erst gibt, seit die Stadt jetzt ebenfalls in den sozialen Medien wie Facebook und Instagram unterwegs ist. Dabei geht es aber nicht nur um die Kommunikation nach außen, sondern auch nach innen. Die Informationen müssen aus allen Bereichen beschafft werden, für die neuen Medien aufbereitet werden – und das unter besonderer Berücksichtigung der Barrierefreiheit. Denn die Informationen sollen für alle Bürger leicht zugänglich sein. Dr. Grote ist promovierte Altgermanistin. Von da aus war die überraschende Buchvorstellung verständlich: das „Nibelungenlied“ in all seinen Variationen. Natürlich kennt sie mögliche Berührungsängste, die aber völlig unnötig sind. Selbstverständlich ist es ein großer Sagenkreis, aber „wenn man die Frauen rausstreicht, passiert eigentlich gar nichts“, so Dr. Grote. Und nebenbei: der Siegfried ist ein pubertierender Kraftprotz. Also: keine Angst vor der Lektüre und nach der Hörprobe am Freitag wird es sicherlich weitere Leser geben.
Muss man eigentlich sportlich sein als Geschäftsführer eines Sportvereins? Für Patrick Busse vom TV Lemgo keine Frage. Natürlich ist er aktiv, hält sich fit. Denn auch für ihn gilt augenzwinkernd das Motto „Man lebt vielleicht nicht länger, aber man stirbt gesünder“. 3.250 Mitglieder zählt der Verein, rund 160 Trainer und 300 weitere Mitmacher, 18 Voll- und Teilzeitmitarbeiter und nicht zuletzt 260 Ehrenamtliche kümmern sich um die Sportler und Sportlerinnen in den Bereichen Wettkampf-, Freizeitsport und Gesundheit/Fitness. Da ist professionelle Begleitung gefordert. Dazu gehört die Hallenbelegung, die Geräteverwaltung, Lohn- und Gehaltsabrechnungen, das Ausstellen von Zertifikaten, An-, Um- und Abmeldungen. Gestartet ist Busse beim TV als Mitglied, dann als Trainer und seit 2001 ist er Geschäftsführer. Sein Wissen und Können hat sich rumgesprochen, so dass er auch als Coach für Vereine und Firmen gefragt ist. Vieles kann man auch nachlesen, denn er hat auch schon ein Buch darüber verfasst. Aber nicht dieses wollte er vorstellen, sondern „Die sonderbare letzte Reise des Donald Crowhurst“ von Ron Hall und Nicholas Tomalin. Das ist wahrlich eine sonderbare Geschichte von einer Weltumseglung, die in Teilen wohl so nie stattgefunden hat, nur vorgetäuscht wurde. Aber die Geschichte darüber, und wie alles aufgedeckt wurde, ist real und spannend zu lesen.
Wie orientiert man sich als Sehbehinderter, als Blinder in dieser Welt der Zeichen und Symbole? Wie schafft man es, sich fast ohne fremde Hilfe in der Stadt zurechtzufinden? Martin Franke ist vielen Lemgoern sicherlich kein Unbekannter, viele haben ihn mit seinem Assistenzhund Sam schon in der Stadt gesehen. Am Freitagabend gab er Auskunft. Vorab: Martin Franke war bereits als Kind kurzsichtig, Myopie heißt der Befund. –6 Dioptrien schon als Schulkind, inzwischen sind es -24. Kontaktlinsen in den 60er Jahren lösten die Brille mit den dicken Gläsern, den „Glasbausteinen“, ab. Und bis zu der ein wenig vorgezogenen Pensionierung war damit vieles möglich. Er unterrichtete Englisch und Deutsch am Gymnasium in Bad Salzuflen, leitete Literaturkurse. Ein Freiwilliges Soziales Jahr in England und ein späterer zweiter Aufenthalt dort brachte ihm die englische Chortradition näher; Yehudi Menuhin konnte er dort kennenlernen, „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ mit dem englischen Chor einstudieren.
Die Sehschwäche nahm zu. Auch Kontaktlinsen boten und bieten nicht mehr ausreichend Hilfe. Zwar gibt es inzwischen eine Reihe von Hilfsmitteln, aber unübertroffen ist die Unterstützung durch den Blindenführ-Hund, durch Sam. Viele Adressen wie Bäckerei, Drogerie, Nicolai oder Bücherei, kennt Sam inzwischen und führt Herrchen dorthin. Natürlich sollte der Hund während der Führarbeit, also solange er das typische Geschirr trägt, nicht angesprochen oder abgelenkt werden. Wichtig aber auch: der lange Blinden-Taststock. Ideal, wenn dann auch die Pflasterung entsprechend gelöst ist wie zum Beispiel an den Bushaltestellen. „In der Mittelstraße dagegen ist es eine Katastrophe“. Blinde und Sehbehinderte sind häufig auf verbale Unterstützung angewiesen: welche Buslinie hält gerade? Wo und wie weit ist es? Da sollten die Auskünfte sehr präzise sein: also kein „Da drüben“ oder „Gleich da vorn beim Fahrrad“… Im häuslichen Alltag helfen sprechende Waage oder akustische Füllmengen-Anzeiger. Und die Entwicklung geht weiter: das neueste Modell der Or-Cam, eine etwa bleistiftgroße an der Brille befestigte Kamera, ist Lesegerät, erkennt Gesichter, Geldscheine und Produkte. Über all das informiert die Selbsthilfegruppe „Blind Date“, die sich jeden 2. Donnerstag im Monat im KastanienHaus trifft. Vorsitzender ist übrigens Martin Franke. Neben all den technischen Hilfsmitteln bleibt eins unersetzlich: das gute Gedächtnis, wenn es geht, mit Raum für das Früher-Gelesene. Eine kleine Probe lieferte Franke gleich ab: Goethes „Erlkönig“ und „Die Brück‘ am Tay“ von Fontane. – Informationen zu allen Texten des Abends gibt es ab sofort in der Stadtbücherei.
TEXT: Berthold Jauch-Held / Freunde und Förderer der Stadtbücherei Lemgo e.V.